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Die Welt der Jugendlichen Teil 2

Die Welt der Jugendlichen Teil 2

Dr. Michalea Christine Mayer versucht in einem spannenden und intensiven Interview, die Beweggründe Jugendlicher, die Selbstmord begehen wollen, zu verdeutlichen. In Ihrer langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin und Pädagogin hat Sie viel Erfahrung sammeln können.


Und dann gibt es noch junge Menschen mit desorganisierten Bindungsbesonderheiten auch Bindungstraumatisierung. Das ist natürlich besonders herausfordernd. Solche Jugendlichen haben Bindungssituationen erlebt, die nicht zuverlässig waren. Sie haben gelernt, dass nichts beständig ist, sondern jederzeit ein anderer Zustand oder Aktion aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Grundes passiert. Sie sind in sehr unsicheren Lebenssituationen aufgewachsen und haben gelernt, sich mit entsprechend unterschiedlichen Bindungspartnern zu adaptieren.

Solche Menschen verhalten sich immer der Situation entsprechend und passen sich immer an. Das geht von häuslicher Gewalt bis hin zum sexuellen Missbrauch. Diese Jugendlichen mutieren zu Lebenskünstlern und passen sich so lange an, bis sie nicht mehr wissen, wer sie selbst sind. Sie können sich selbst nicht identitätsstiftend entwickeln, da sie einfach nur „überleben“. Diese Menschen sind natürlich aufgrund ihres nicht kohärenten Selbsterlebens sehr gefährdet. Sie haben Schwierigkeiten in der Selbstabgrenzung und wissen nicht, „wo fange ich an und wo hörst du auf“. Diese Jugendlichen haben auch nie gelernt, die eigenen Grenzen festzulegen, was leider die Pforten für alle anderen Missstände und ungesunden, bedrohlichen Situationen öffnet.

Das ist eine Form der Entwicklungstraumatisierung. Es gibt kein einheitliches Selbsterleben und die Gefühle werden entweder unterdrückt oder schießen komplett über. Die Gefühle werden dann mit allem, was gerade zur Verfügung steht, reguliert – Selbstverletzung, Essstörungen, Antidepressiva, Drogen.

Das nennt man dann affektregulatorische Mechanismen. Diese entwicklungstraumatisierten Menschen können sehr schnell in ihrem Verhalten auf das wechseln, was gerade notwendig ist.

In Helfernetzwerken kann so ein Verhalten zu Verwirrung und einem Durcheinander führen, da diese Personen jedem etwas Anderes erzählen. Keiner weiß wirklich, was der Betroffene nun will. Diese Menschen haben mitunter eine große Fähigkeit zu dissoziieren. Das ist auch eine Fähigkeit des Selbstschutzes, um Gefühle nicht so stark erleben zu müssen. Das zeigt sich vor allem bei Essstörungen.

Das gesamte Verhalten kann sich schlagartig mit einer bestimmten Person oder einer anderen Umgebung verändern.

Diese wechselnden Zustände werden oft von den Betroffenen gar nicht realisiert. Nichtsdestotrotz ist es für sie extrem belastend. Das lehnt sich ein bisschen an die Theorie der strukturellen Dissoziation an. Diese Menschen sind sehr gefährdet, da sie sich selber in ihrem Erleben wenig realisieren. Hier ist professionelle Unterstützung von außen ganz wichtig. Jemand, der den Betroffenen daran erinnert, dass es auch gute oder bessere Momente gibt und wie man sie bekommt. Welche Personen oder Ereignisse im Leben nötig sind, um diese guten Gefühle wieder hervor zu heben.  

Dieses Gefühl der Verengung und keine (andere) Lösung mehr zu finden, ist typisch für den Suizid. Diese Form der Selbstwahrnehmung lässt den Betroffenen dann kaum einen anderen Ausweg über, als diese fixierte Idee des Suizids. Diese Personen haben das Gefühl, bereits ewig in diesem Zustand zu sein und dass es sowieso nie anders war. Daher ist professionelle Hilfe oder jemand, der den Betroffenen genau diese guten Zeiten wieder in Erinnerung holt, so wichtig. Man darf dabei aber die Würde und die „Problemlösung“ des anderen nicht vergessen. Es ist also wichtig, den Suizid nicht auszureden, denn dann hat der Betroffene das Gefühl, nicht verstanden zu werden.

Es gibt auch Menschen, bei denen man das Gefühl hat, dass das Selbsterleben phasenweise sehr affektflach ist. Bei denen kaum etwas durchkommt. Man hat das Gefühl, der Betroffene lebt in einer Art Vakuum, in einem dissoziativen „Nicht-da-sein-Gefühl“. Auch das hat seinen Ursprung von Traumatisierungen in der Kindheit.

Dann kommt der Moment, wenn dieser Schleier bricht. Ein plötzliches Realitätserleben, in welchem dem Betroffenen ad hoc bewusst wird, wer er ist und in welcher Situation er sich befindet (z.B. zu viele Rechnungen etc.). In so einer Situation kann es passieren, dass jemand eine impulsive Handlung setzt. Das sind dann Menschen, die immer ruhig waren und alle den Anschein hatten, es sei alles in Ordnung. Nach außen hin sind das dann diese typischen Amokläufer. Ähnliches gibt es sozusagen nach innen auch. Wenn das Verhalten des Jugendlichen nicht mit dem zusammenpasst, was im sozialen Milieu gerade passiert. Wenn es scheint, als wäre dieser Person alles egal und er saugt alle Gefühle wie ein Schwamm auf, aber es kommt nichts dabei raus. Bis er plötzlich an diesen Punkt kommt und Suizid begeht.

 

Zusammenfassend:

Wir haben die Möglichkeit des Internalisierens, wo der Suizid als Problemlösungsstrategie funktioniert und fungiert - nach innen.

Und es gibt das externalisierende Symptomverhalten mit aggressiven Tendenzen, um mehr andere zu verletzen – nach außen.

In jedem Fall ist es eine tiefe und große Not, so zu sagen das Scheitern aller Problemlösungsfähigkeiten und –mechanismen, die sich mir zur Verfügung stellen. Ein absolutes mit mir und der Welt überfordert sein.

 

Quelle:

Interview mit Dr. Michaela Christine Mayer

Redaktion: SN

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