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Psychische Leiden nehmen zu - ohne Gegenmaßnahmen droht in wenigen Jahren der Versorgungskollaps

Psychische Leiden nehmen zu - ohne Gegenmaßnahmen droht in wenigen Jahren der Versorgungskollaps

Statement von Dr. Günter Klug, Vizepräsident pro mente Austria, Obmann des Dachverbandes der sozialpsychiatrischen Vereine und Gesellschaften Steiermarks, Obmann der Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit bei der Pressekonferenz in Wien am 28.03.17.


Wenn wir auf die 40-jährige Arbeit von pro mente Austria zurückblicken, liegt es nahe, Vergleiche anzustellen. Leider lässt sich die Frage, ob es heute mehr oder weniger psychische Erkrankungen gibt, nicht einfach mit zwei einander gegenüber gestellten Zahlen beantworten. Das liegt zum einen daran, dass es in Österreich damals wie heute keine verlässlichen Angaben zur Prävalenz gibt. Zum anderen lassen sich verschiedene Zeiten, gerade wenn es um psychische Leiden geht, nur schwer miteinander vergleichen.

Warum psychische Leiden zunehmen

Aus internationalen Studien und der Empirie der täglichen Praxis lässt sich aber folgendes Bild ableiten:

•  Psychische Krankheiten, die auch eine größere genetische Komponente haben – wie etwa die Schizophrenie – sind heute nicht weiter verbreitet als vor 40 Jahren.

•  Deutlich häufiger diagnostizieren wir aber zum Beispiel Depressionen und Angststörungen. Dabei dürfte der Großteil der Zunahme aber aus der früher noch viel höheren Dunkelziffer kommen, weil sich die Betroffenen eher trauen, damit zum Arzt zu gehen. Obwohl in dieser Hinsicht noch viel zu tun ist, zeigt diese Entwicklung, dass es doch gelingt, die Stigmatisierung psychischer Krankheiten zurück zu drängen.

• Was mit Sicherheit auch absolut gemessen zunimmt, sind psychische Leiden, die sich aus lebensgeschichtlichen Ereignissen ableiten. Trivial gesagt: Das Leben wird nicht leichter. Immer höhere Leistungserwartung auf der einen und zunehmend prekäre Dienst- und Einkommensverhältnisse auf der anderen Seite führen immer öfter ins Burnout. Menschen, die früher in einfachen Jobs ein Auskommen fanden, fallen heute zunehmend ganz aus dem System, verlieren ihr Selbstwertgefühl und landen bald in der Depression.

• Dazu kommt, dass sich auch unsere Gesellschaft radikal gewandelt hat. Heute leben viel mehr Menschen allein oder als Alleinerzieher. Das bedeutet nicht nur eine höheres finanzielles Risiko, sondern auch, dass oft niemand da ist, mit dem man sich über die Belastungen des Alltags austauschen kann.

• Den größten Zuwachs sehen wir zweifellos bei den alterspsychiatrischen Erkrankungen. Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt ab dem 60. Lebensjahr signifikant an, bei den über 90-Jährigen leidet bereits jeder Dritte daran. Nach allen Prognosen stehen wir aufgrund der weiter steigenden Lebenserwartung damit aber erst am Anfang einer Entwicklung. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl der über 75-Jährigen verdreifachen, die der über 90-Jährigen vervierfachen.

Psychische Leiden verursachen ein Viertel der Krankheitslast, aber nur sechs Prozent der Gesundheitsausgaben

Insgesamt ist Studien zufolge heute bereits jeder Dritte einmal pro Jahr zumindest von einer psychischen Störung betroffen. In den WHO-Berechnungen zur „Krankheitslast“ (Burden of disease) rangierte die Depression 2015 bereits auf Platz 1, die Alkoholsucht auf Platz 4. Bis 2030, so die Prognose, werden bereits drei psychische Krankheiten unter den Top 5 liegen: Depression auf Platz 1, Alzheimer und andere Formen der Demenz auf Platz 3 und die Alkoholsucht auf Rang 5.

Schätzungen zufolge wird in Österreich bereits ein Viertel der gesamten Krankheitslast von psychischen Erkrankungen verursacht. Verglichen damit nehmen sich die dafür geleisteten Aufwendungen beschämend niedrig aus: Für die Behandlung und Betreuung psychisch Kranker werden nur rund sechs Prozent der Gesundheitsausgaben aufgewandt. Daran kann jeder Laie erkennen, dass in unserem Gesundheitssystem etwas nicht stimmen kann. Die Wahrheit ist: Diese Unterfinanzierung ist nichts anderes als die in Geld ausgedrückte Stigmatisierung psychischer Leiden.

Diese Ignoranz ist umso unverständlicher, als alleine Demenz, Angststörungen, Psychosen und affektive Erkrankungen jährlich Kosten in Höhe von 7,2 Milliarden Euro verursachen. Mit jedem Euro, der in die Prävention gesteckt würde, ließe sich ein Vielfaches an Folgekosten einsparen.

Psychiatrie in Österreich: Zu wenig Betten, zu wenig Facharztstellen

Die Folgen bekommen die Betroffenen täglich ganz konkret zu spüren: Mit – je nach Bundesland – 35 bis 55 Betten pro 100.000 Einwohner liegt Österreich in der stationären Versorgung im europäischen Vergleich am unteren Ende der Skala. Das wäre noch kein Problem, wenn wir das im niedergelassenen Bereich und den psychosozialen Diensten kompensieren würden. Leider ist das Gegenteil der Fall: Mit 14,6 Psychiatern pro 100.000 Einwohnern stehen bei uns auch deutlich weniger Fachärztinnen und Fachärzte zur Verfügung als im OECD-Durchschnitt. Im Nachbarland Schweiz beispielsweise sind es 45,1.

Die logische Konsequenz: Bei uns werden zirka 70 Prozent aller psychiatrischen Diagnosen und Verordnungen von Allgemeinmedizinern getroffen. Für die Behandlung beim Facharzt müssen die Betroffenen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, was nicht nur das Leid prolongiert, sondern auch das Risiko der Chronifizierung erhöht. Symptomatischer Weise gibt es darüber keine genauen Zahlen. Aber in Graz beispielsweise sind drei Monate Wartezeit auf einen Facharzttermin die Regel. Wer auf einen der wenigen Kassenplätze für eine Psychotherapie angewiesen ist, muss sich gar auf ein halbes bis ein ganzes Jahr Wartezeit einstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Politik und Gesellschaft es akzeptieren würden, wenn jemand mit zu hohem Blutdruck so lange auf eine Standardbehandlung warten müsste.

Ohne forcierte Ausbildung droht Desaster

Wenn wir nicht rasch gegensteuern, laufen wir sehenden Auges in ein Desaster. Absehbar geht in den nächsten zehn bis 15 Jahren rund die Hälfte der heute schon zu wenigen Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie in Pension. Zwar gilt für die Psychiatrie seit Kurzem die Mangelfachverordnung, die Oberärzten auch die Ausbildung von mehr als einem Assistenten erlaubt, aber das alleine wird nicht reichen.

Neben dem zunehmenden Bedarf haben sich auch die Lebenskonzepte und Arbeitsgewohnheiten der nachrückenden Generation geändert: 50 bis 60 Stundenwochen werden von den Jungen heute nicht mehr selbstverständlich akzeptiert. Dazu kommt, dass deutlich mehr Frauen nachrücken, die öfter als Männer in Teilzeit arbeiten. Wenn wir die Ausbildung nicht mit zusätzlichen Maßnahmen und Anreizen forcieren, werden in zehn Jahren 20 bis 30 Prozent zu wenig Fachärzte für Psychiatrie zur Verfügung stehen.

 

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