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Geschlechtsentwicklung: Consensus-Papier regelt medizinische Behandlung von betroffenen Kindern

Geschlechtsentwicklung: Consensus-Papier regelt medizinische Behandlung von betroffenen Kindern

MedUni Wien an europaweiten DSD-Richtlinien maßgeblich beteiligt


Störungen der kindlichen Geschlechtsentwicklung sind in Diagnose, Beratung und Therapie eine große medizinische Herausforderung für Betroffene und die behandelnden ÄrztInnen. Anders als früher gilt DSD (Differences of Sexual Development) heute als seltene und komplexe Erkrankung mit einer Vielzahl an klinischen Manifestationen. Ziel ist eine interdisziplinäre Behandlung je nach Alter und Ausprägung, und nicht mehr die sofortige operative Geschlechtsanpassung noch im Kindesalter. Ein neu erstelltes Consensus-Papier europäischer MedizinerInnen, PsychologInnen, PatientInnen und Selbsthilfegruppen soll nun als Grundlage eines einheitlichen medizinischen Umgangs mit DSD in Europa dienen.

 

Aus Österreich waren u.a. der Kinderurologe Alexander Springer von der Klinischen Abteilung für Kinderchirurgie und der Kinderarzt Stefan Riedl von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien beteiligt. Das Papier wurde nun im renommierten Journal „Nature Reviews Endocrinology “ publiziert.

 

Menschen, die an der heute als seltene Erkrankung eingestuften „Diverse Sex Development“ DSD leiden, wurden früher als „intersexuell“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass es bedingt durch genetische, anatomische oder hormonelle Ursachen nicht eindeutig möglich ist, dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden zu können. DSD ist allerdings keine eindeutige Diagnose, sondern meint eine übergeordnete Bezeichnung für sehr unterschiedliche klinische Phänomene mit diversen biologischen Ursachen. Im Unterschied dazu werden transsexuelle Menschen medizinisch gesehen als biologisch eindeutig definiert, meinen aber, aus subjektivem Empfinden, dem anderen Geschlecht anzugehören. Man geht davon aus, dass ca. jedes 1.500. Neugeborene and DSD leidet. In Österreich wären das ca. 50 Kinder pro Jahr.

 

In den vergangenen Jahrzehnten wurden bei Kindern mit nicht eindeutig bestimmbarem Geschlecht oft schon im Kleinkindalter geschlechtsanpassende Operationen durchgeführt, oft ohne die Eltern grundlegend über Maßnahmen und Ziele zu informieren und ohne die Langzeitfolgen zu kennen. Diese Situation verbesserte sich kontinuierlich durch zunehmendes Engagement und Selbstbewusstsein der betroffenen Erwachsenen. Im „Chicago-Consensus“ von 2005 wurde bereits erstmals durch ExpertInnen festgelegt, Kinder nur bei sicherer Geschlechtsidentität zu operieren und eine intensive medizinische und psychologische Betreuung über einen langen Zeitraum durchzuführen. Dennoch kam es immer wieder zu falschen Diagnosen und Fehlbehandlungen.

 

Nun wurde von führenden medizinischen ExpertInnen, Selbsthilfegruppen und betroffenen Erwachsenen als Resultat eines dreijährigen Forschungsprojekts ein neues Consensus-Papier zum Thema DSD erarbeitet. Das Ziel war, eine ganzheitliche Perspektive auf das weite Feld der DSD zu etablieren und dabei alle Bereiche des Lebens wie Sexualität, Arbeitsleben und Kinderwunsch mitzudenken.

 

Zu den grundlegenden Vereinbarungen gehört u.a. die Erkenntnis, dass DSD ein Bündel von langwierigen und komplexen Erkrankungsphänomenen ist und bisher suboptimal behandelt wurde. Es wurde vereinbart, so die Experten der MedUni Wien, dass Diagnose und Therapien ausschließlich an spezialisierten medizinischen Zentren mit interdisziplinärem Setting vorgenommen werden sollen. Ebenso wurde als Consensus festgelegt, dass DSD als lebenslange Erkrankung gilt, die eine entsprechende Behandlungsdauer haben muss. Schließlich wurde die Etablierung eines prospektiven Registers vereinbart, also einer multidisziplinären und internationalen Datenbank. Alexander Springer, Kinderurologe an der Klinischen Abteilung für Kinderchirurgie der MedUni Wien:

Damit haben wir den Grundstein gelegt, europaweit eine einheitliche Behandlung zu etablieren. Dies ist allerdings erst der Beginn. Wir brauchen Langzeitdaten und gute Studien, damit wir einmal für jeden Patienten die optimale Behandlung festlegen können.

Service: Nature Reviews Endocrinology. Cools M, Nordenström A, Robeva R, Hall J, Westerveld P, Flück C, Köhler B, Berra M, Springer A, Schweizer K, Pasterski V; COST Action BM1303 working group 1. “Caring for individuals with a difference of sex development (DSD): a Consensus Statement”. Nat Rev Endocrinol. 2018 May 16. doi: 10.1038/s41574-018-0010-8.

Quelle: Presseaussendung der Medizinischen Universität Wien

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