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Neurologische Volkskrankheiten nehmen weiter zu: drohenden Ärztemangel vermeiden, spezialisierte Strukturen schaffen

Neurologische Volkskrankheiten nehmen weiter zu: drohenden Ärztemangel vermeiden, spezialisierte Strukturen schaffen

PK zur 16. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (20.-22. 3. 2019, Eisenstadt) - Statement Prim. Univ.-Prof. Mag. Dr. Eugen Trinka, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation am Uniklinikum Salzburg; Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)

 

In unserer älter werdenden Gesellschaft werden viele Gehirnerkrankungen wie Schlaganfall, Depressionen, Demenzen, Angsterkrankungen, Hirntumore und Epilepsien in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen und unser Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen stellen. Neurologische Erkrankungen wie Migräne oder Schlaganfall werden zu Recht inzwischen als Volkskrankheiten bezeichnet – dieses Thema bildet auch einen Schwerpunkt der 16. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, die von 20. bis 22. März in Eisenstadt stattfindet.

Neurologische Erkrankungen auf Platz 1 der belastenden Beschwerden

Auf der Liste der Erkrankungen, die eine große Belastung für Betroffene und öffentlichen Haushalte darstellen, belegen neurologische Erkrankungen den ersten Platz. Kopfschmerzen führen mit 152,8 Millionen Betroffenen die Liste der häufigsten neurologischen Erkrankungen an, gefolgt von Schlafstörungen und -erkrankungen mit 44,9 Millionen, Schlaganfall mit 8,2 Millionen und Demenzerkrankungen mit 6,3 Millionen (Quelle: European Brain Council).

 

Rund 30 Prozent der Bevölkerung weltweit leiden an einer Krankheit des Gehirns. 

 

Neurologische Erkrankungen kosten auch immer mehr gesund verbrachte Jahre: Berechnungen der WHO zufolge werden weltweit die DALYs (Disability Adjusted Life Years) zunehmen – das ist die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod kombiniert mit dem „Verlust“ an Lebensjahren, die gesund und ohne Behinderung verbracht werden können. Die DALYs werden von 95 Millionen im Jahr 2015 auf 103 Millionen im Jahr 2030 ansteigen, also um mehr als neun Prozent. Global gesehen verursachen Schlaganfälle unter allen Krankheitsgruppen die meisten DALYs.

Österreich braucht mehr NeurologInnen

Österreich wird in Zukunft mehr Neurologinnen und Neurologen brauchen als heute, und deutlich mehr neurologischen Nachwuchs als derzeit in Ausbildung ist. Denn in den kommenden zehn Jahren erreicht fast jeder zweite heute in Österreich tätige Neurologe das Pensionsalter: Derzeit gibt es 758 Ärztinnen und Ärzte mit dem Erstfach Neurologie, davon sind 14 Prozent älter als 55. Dazu kommen – seit der Trennung der früheren gemeinsamen Fachgesellschaft Neurologie und Psychiatrie in zwei eigene Fachgesellschaften – 297 Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, davon sind 89 Prozent älter als 55, sowie 342 Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie, von denen 84 Prozent älter als 55 sind.

 

In Summe sind das 1.397 heute aktive Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie, von denen 656 älter als 55 sind. Das bedeutet, dass insgesamt 47 Prozent, die in den nächsten zehn Jahren das gesetzliche Pensionsalter erreichen.

 

47 Prozent der NeurologInnen in Österreich
gehen in den nächsten 10 Jahren in Pension

 

Ein starkes Engagement für die Ausbildung von jungen Neurologinnen und Neurologen ist also vordringlich. Wir müssen alles daransetzen, um den drohenden Neurologen-Mangel zu verhindern und ausreichende und flächendeckend Strukturen schaffen. Nur so können wir weiterhin eine gute Versorgung gewährleisten. Es ist bemerkenswert, dass viele der schwerst neurologisch erkrankten Patientinnen und Patienten noch immer nicht flächendeckend auf Neuro-Intensiveinheiten versorgt werden können. Fakt ist, dass schwerstkranke Neurologie-Patienten an neurologischen Intensivstationen deutlich bessere Überlebenschancen und funktionelle Behandlungsergebnisse haben als in nicht-neurologischen Intensivstationen. Hier herrscht sicherlich Handlungsbedarf.

Hohe Qualität in der Ausbildung – bahnbrechende Therapie-Erfolge

Die Qualität der Neurologie-Ausbildung in Österreich kann sich jedenfalls sehen lassen. Wir haben hochattraktive Module anzubieten, etwa zu Schlaganfall, Neurointensivmedizin und Neurorehabilitation um nur einige zu nennen. Die Neurologie ist eines der spannendsten und sicher auch erfolgreichsten medizinischen Fächer. Tatsächlich konnte die Disziplin in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Innovation hervorbringen und bahnbrechende Therapien etablieren.

 

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Eine davon ist die Thrombektomie, die mechanische Entfernung von sehr großen Blutgerinnseln nach einem Schlaganfall. Hier ist es zu einer Ausweitung des Zeitfensters gekommen, also mehr Betroffene als bisher können von dieser schonenden mechanischen Methode der Thromben-Entfernung aus dem Gehirn profitieren. Für Migräne-PatientInnen stehen mit den Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) Antikörpern erstmals Substanzen zur Verfügung, die speziell zur Migränevorbeugung entwickelt wurden.

Hilfe bei genetisch bedingter Epilepsie

Auch in der Therapie der Epilepsien – diese gehören in Summe weltweit zu den häufigsten schweren neurologischen Erkrankungen – ist viel in Bewegung: neue medikamentöse Therapien wirken nun auf den jeweiligen Krankheitsmechanismus, was sie grundlegend von klassischen Anti-Epileptika unterschiedet. Ein Beispiel ist hier die Tuberöse Sklerose, eine Krankheit, die durch genetisch bedingte TSC-Gen-Mutationen zu schwerer, therapieresistenter Epilepsie, Tumoren in Organen und Entwicklungsstörungen führt. Hier konnte der Target-Wirkstoff Everolimus entwickelt werden, der den Konsequenzen der genetischen Störung entgegenwirkt und damit Anfälle sowie Tumorwachstum stoppen kann. Intensiv geforscht wird auch, wie man Gendefekte überbrücken oder ein fehlendes Genprodukt ersetzen kann – das ist beispielsweise bei der Neuronalen Ceroid-Lipofuszinose geglückt. Für Kinder mit dieser seltenen, bislang tödlich verlaufenden Stoffwechselerkrankung gibt es jetzt eine Behandlungsoption.

 

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Fortschritte auch bei seltenen neurologischen Erkrankungen

Auch für viele sehr seltene neurologische Erkrankungen, die bisher als unheilbar galten, gibt es nun Behandlungsmöglichkeiten. Gegen die spinale Muskelatrophie beispielsweise wurden Therapien entwickelt, die auf den krankheitsverursachenden genetischen Defekt zielen. Das verbessert die Prognose der Betroffenen massiv. Das Gleiche gilt für andere seltene, aber furchtbar verlaufende neurologische Erkrankungen wie die Huntington-Krankheit oder die amyotrophe Lateralsklerose. Für PatientInnen mit dieser Diagnose gibt es nun endlich Hoffnung.

Internationale Netzwerke bündeln Wissen zu komplexen und seltenen Erkrankungen

Seltene oder sehr komplexe neurologische Erkrankungen erfordern in der Regel mehr als nur eine Expertenmeinung. Gesundheitsdienstleister in ganz Europa haben deshalb die Europäische Referenznetzwerke (ERN) gegründet mit dem Ziel, das Wissen über seltene Erkrankungen zu bündeln. Dazu berufen die ERN-Koordinatoren einen „virtuellen“ Beirat aus Fachärzten verschiedener Fachgebiete ein, der die Diagnose und Behandlung eines Patienten überprüfen kann. Das Referenznetzwerk EpiCare unterstützt bei der Einschätzung und Behandlung von seltenen und komplexen Epilepsien. Die Online-Plattform Muscle & Nerve bietet Expertinnen und Experten gesammelt Publikationen über die neuesten Erkenntnisse zu neuromuskuläre Erkrankungen und möglichen Behandlungsoptionen.

 

Quellen:

Christopher J L Murray, Alan D Lopez. Measuring global health: motivation and evolution of the Global Burden of Disease Study; Lancet 2017; 390: 1460–64;

GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group: Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990–2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015; Lancet Neurol 2017, published Online September 17.

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