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Weltkrebstag: „Wir brauchen dringend ein klinisches Krebsregister“

Weltkrebstag: „Wir brauchen dringend ein klinisches Krebsregister“

Ute Ganswindt, Direktorin der Univ.-Klinik für Strahlentherapie-Radioonkologie und Dominik Wolf, Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin V an der Medizinischen Universität Innsbruck, berichten als SprecherInnen des Innsbrucker Krebszentrums CCCI* anlässlich des Weltkrebstags am 4. Februar unter anderem über den Zugang zur Krebsmedizin für Menschen in Österreich und schließen sich den Forderungen von ExpertInnen nach einem österreichweiten klinischen Krebsregister an.

 

Mit dem diesjährigen Slogan des Weltkrebstags „Close The Care Gap“ soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass es weltweit große Unterschiede beim Zugang zur Krebstherapie gibt.

 

Stellen Sie innerhalb Österreichs noch eine Versorgungskluft fest?

 

Dominik Wolf: In Tirol gibt es aus meiner Sicht durch die Vernetzung vom Zentrumskrankenhaus mit den Partnern in die Peripherie, wie beispielsweise die Schwerpunktkrankenhäuser in Zams und Kufstein, aber auch den KollegInnen in Feldkirch keine Versorgungslücken. Über ein virtuelles Tumorboard besprechen und dokumentieren wir beispielsweise gemeinsam Patientinnen und Patienten, die – falls erforderlich – dann auch bei uns in Innsbruck vorgestellt werden, um Zentrums-spezifische Therapien, wie eine Blutstammzell-Transplantation oder eine CAR T Zelltherapie zu bekommen. Allerdings gestalten die Bundesländer den Genehmigungsprozess für neue hochpreisige Medikamente unterschiedlich. In Tirol läuft dieser Prozess für die intramurale Versorgung über die ärztliche Direktion und die Arzneimittelkommission der Klinik. Meine Wahrnehmung ist, dass unsere Patientinnen und Patienten dadurch sehr früh zu modernen, innovativen Medikamenten kommen. Wir müssen uns aber Gedanken machen, wie wir die zunehmenden Kosten hochspezialisierter Medizin nicht nur in der Krebsmedizin zukünftig schultern können.

 

Ute Ganswindt: Die flächendeckende auch radioonkologische Versorgung in Österreich ist mittlerweile gut, in den letzten Jahren wurden Kapazitäten vor allem im Osten Österreichs erweitert. Die Genehmigungsprozesse innovativer Medikamente oder Therapieansätze unterscheiden sich gelegentlich zwischen den Bundesländern, was man sicher homogenisieren sollte. Dennoch, weltweit betrachtet befinden wir uns in einer privilegierten Situation. Es gibt immer noch ganze Kontinente, die eine adäquate onkologische Versorgung nicht gewährleisten können. Es gibt gleichzeitig aber auch Schwellenländer, welche mittlerweile erheblich aufgeholt haben.

 

Wolf: Noch etwas: Um die Qualität eines Versorgungssystems sinnvoll beurteilen zu können, benötigen wir dringend ein österreichweites klinisches Krebsregister, in dem die Behandlungs- und Outcome-Daten erfasst werden. Wir müssen zeitnah detaillierter auswerten können, wie lange Patientinnen und Patienten nach der Diagnose leben und wie sie therapiert worden sind. Das Tiroler Krebsregister ist sehr gut, informiert aber als rein epidemiologisches Register hier nur über Teilaspekte.

 

Hat die Corona-Pandemie die Krebsforschung zurückgeworfen?

 

Wolf: Nein, ich glaube nicht – im Gegenteil. Es ist beeindruckend, wie viel Power Wissenschaft hat, wie schnell die SARS-COV2 Impfung an die Menschen gebracht wurde - das ist ein glühendes Beispiel dafür. Gleichzeitig hat sich auch gezeigt, dass der reguläre Publikationsprozess für neue wissenschaftliche Erkenntnisse viel zu träge ist und wie wichtig schnelles Data Sharing ist. Viele Studien werden jetzt bereits als Pre-Print von den Medien zitiert und befinden sich damit noch vor oder im wissenschaftlichen Begutachtungsprozess und sind noch nicht in einem Wissenschaftsjournal publiziert. Die Daten sind aber damit bereits offen verfügbar und können so diskutiert werden. Das alles gibt auch der Krebsforschung einen großen Schub, nicht zuletzt auch weil die mRNA-Impfstrategie gegen SARS-CoV2 ursprünglich aus der Krebsforschung kommt. Dadurch bekommen Biotech-Unternehmen, die in der Krebsforschung arbeiten, wie Biontech, jetzt auch die finanziellen Möglichkeiten, die kostenintensiven klinischen Studien für die Entwicklung von Therapien gegen Krebs voranzutreiben. Das wird letztlich das gesamte Feld substanziell voranbringen und – das wichtigste – den Patientinnen und Patienten helfen.  

 

Ganswindt: Ich glaube auch, dass die Pandemie einige Dinge innerhalb der Krebsforschung beschleunigen wird. Zu Beginn mit dem ersten Lockdown Anfang 2020 bestand die Befürchtung, dass sich viele Projekte verzögern werden. Mittlerweile gehen wir eher davon aus, dass der Kampf gegen die Pandemie im Endeffekt ein positiver Trigger sein könnte.

 

Wolf: Ich sehe auch, dass viele der Wirkstoffe, die gegen COVID-19 eingesetzt werden, aus der Krebsforschung kommen. Als Beispiel seien hier JAK- oder BTK-Inhibitoren genannt. Es gibt bei COVID-19 eine Reihe an interessanten Aspekten, die auch im Kontext von Krebserkrankungen spannend sind, wie beispielsweise die überschießende Entzündungsantwort, die gezielte Immunantworten hemmt.  Durch das Virus ist damit auch in anderen Fachbereichen viel neues Wissen generiert worden.

 

Ganswindt: In Innsbruck gab es im vergangenen Jahr einen Rekord bei der Anzahl der Studien-Einreichungen an die Ethikkommission. In einigen Disziplinen hatten die Forscherinnen und Forscher ggf. mehr Zeit, ihre Projekte auszuarbeiten. Es war sicher nicht alles negativ.

 

Gab es Auswirkungen auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten?

 

Ganswindt: Operationen mussten teilweise erheblich verschoben werden, auch onkologische. Auch in den vergangenen drei Monaten gab es keinen Normalbetrieb in den operativen Fächern. Wenn nicht genügend Intensivbetten verfügbar sind, müssen planbare Eingriffe verschoben werden. Zu Pandemie-Beginn konnte man feststellen, dass in der gegebenen damaligen Unsicherheit viele Patientinnen und Patienten einen Arztbesuch von sich aus aufgeschoben haben, was gelegentlich zu verzögerten Diagnosen führte. Mittlerweile können und müssen wir ganz klar formulieren, dass keine Vor- oder Nachsorgeuntersuchung verschoben werden sollte – dies ist in der Öffentlichkeit auch zunehmend angekommen.

 

Wolf: Bei einer akuten Leukämie oder nach einer Knochenmarkstransplantation ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Betroffenen vorübergehend einmal auf eine Intensivstation müssen. Die interdisziplinäre internistische Intensivstation, die eigentlich für diese Patientinnen und Patienten vorgesehen ist, war aber bis zuletzt oft komplett mit COVID-19-Infizierten belegt. In der letzten Welle war es daher oft nicht so einfach, ein Intensivbett zu bekommen. Es wurde zwar nicht hart triagiert, aber viel diskutiert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei uns und auch im Land war aber durchwegs sehr gut. Klar ist auch: Neben der Intensivmedizin haben vor allem Vor- und Nachsorge gelitten.  In diesem Kontext muss nochmals herausgestrichen werden, dass die Vorsorge generell zu wenig in Anspruch genommen wird – auch schon vor Corona. In Tirol geht man davon aus, dass beispielsweise nur 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung zur regelmäßigen Darmkrebsvorsorge gehen. Dieses niedrige Niveau wurde dann in den Pandemiewellen nochmals drastisch um bis zu 75 Prozent reduziert. Gleiches gilt für die Vorsorgemammographie. Wir alle hoffen sehr, dass wir nun zur endemischen Virusverbreitungsphase übergehen können und wir damit als Teil der Normalität wieder viel mehr über Screening reden. Krankheiten zu vermeiden oder früh zu erkennen ist die beste Strategie, die Krebs-Sterblichkeit zu vermindern.

 

Wie haben Ihre Patientinnen und Patienten die Pandemie erlebt?

 

Ganswindt: Wir haben mit Pandemie-Beginn gemeinsam die Lebensqualität und das psychische Befinden unserer Patientinnen und Patienten untersucht und waren fast überrascht, wie resilient sie zu sein scheinen. Wir haben eigentlich keine/n einzige/n Patientin oder Patienten verloren, weil er/sie Angst gehabt hätte und deshalb nicht mehr gekommen wäre. Unser Eindruck ist, dass die Betroffenen eine Krebsdiagnose natürlich als viel dominierender wahrnehmen als COVID-19. Die größte Angst von Patientinnen und Patienten war, dass Behandlungstermine verschoben werden könnten. Mit dem persönlichen Schutz vor einer Ansteckung mit dem Virus mittels FFP2-Masken und den geltenden Hygienemaßnahmen waren unsere Patientinnen und Patienten oft schon vorher vertraut. Eine erhebliche Herabsetzung ihres subjektiven Befindens ging damit weniger einher.

 

Wolf: Die Resilienz bei den Patientinnen und Patienten war sehr gut. Aber für mich gab es auch sehr traurige Verläufe, da manche Betroffenen nach bestimmten Krebstherapien keinen Impfschutz aufbauen konnten und dann trotz Impfung teils nach überstandener Krebskrankheit an den Folgen der Corona-Infektion verstorben sind. Das haben wir aber vor allem in der Deltawelle und vor der 3. Impfung gesehen.

 

Sollten sich alle onkologischen Patientinnen und Patienten gegen Covid-19 impfen lassen?

 

Wolf: Wir haben allen empfohlen, sich frühzeitig impfen zu lassen. Patientinnen und Patienten mit bestimmten Krebstherapien haben wir auch vor der offiziellen Empfehlung den 3. Stich empfohlen, derzeit sogar die 4. Impfung für Risikogruppen. Man kann dabei nur gewinnen.  Es gibt ganz wenige und seltene Kontraindikationen gegen die Impfung und ich kenne kaum Krebspatientinnen und -patienten, die sich nicht impfen lassen dürfen. Daher plädiere ich nachhaltig dafür, sich so früh wie möglich komplett durchimpfen zu lassen.

 

Und wie sieht es bei Krebs mit der tatsächlichen Schutzwirkung der Impfung aus?

 

Wolf: Der Impfschutz ist oft besser als man denkt. Lediglich jene Patientinnen und Patienten mit Lymphomen erhalten Therapien, die oft reduzierte Antikörperantworten zur Folge haben. Es kann jedoch trotzdem eine sehr gute T-Zell, aber auch Antwort des angeborenen Immunsystems entstehen.  Meine Empfehlung ist wirklich, breitest alle zu impfen. Auch nach einer Knochenmarkstransplantation können sich Patientinnen und Patienten sehr früh impfen lassen, sodass hier ein möglichst guter Schutz aufgebaut werden kann.

 

Welche Studien laufen am CCCI und gibt es einen Bereich, in dem sich Innsbruck als Vorreiter positioniert?

 

Wolf: Das CCCI ist das Dach über allen Abteilungen, die sich klinisch oder wissenschaftlich mit Krebs beschäftigen. Jede Abteilung hat hier ihr eigenes Studienportfolio und es läuft in der Summe eine Vielzahl klinischer Studien, in welche PatientInnen eingebracht werden können und zunehmend auch sollten. Ich denke, dass der Standort in verschiedenen Bereichen international kompetitiv ist, wobei auch vieles noch weiterentwickelt werden muss. Eine große Bedeutung spielen zunehmend frühe klinische Studien. In meiner Klinik beispielweise haben wir solche Erste-Phase-Studien mit verschiedenen neuartigen Immunonkologika (zum Beispiel mit onkolytischen Viren oder anderen neuen Immunonkologika). Auch mit CAR-T-Zellen Therapien gibt es verschiedene Therapie-Studien, in denen Betroffene früh an innovative Therapieformen kommen können.

 

Ganswindt: Die Stärke in Innsbruck liegt sicher in der guten und auch translationalen Vernetzung: Zum Beispiel beschäftigen sich viele Disziplinen mit der Immuntherapie, sowohl experimentell als auch in der klinischen Anwendung. Die sinnvolle Kombination oder der best wirksamste zeitliche Ablauf der angewandten Therapiemodalitäten steht dabei zur Zeit ganz im Fokus.

 

Personalisierte Krebstherapie, Immuntherapie und Krebsimpfung sind derzeit in aller Munde. Welchen Stellenwert haben Chemo- und Strahlentherapie noch?

 

Wolf: Die Krebsmedizin besteht aus mehreren Säulen. Neben der Chirurgie und der Strahlentherapie bleibt die Chemotherapie in vielen Bereichen eine zentrale Säule. Früher glaubte man, die Chemo tötet nur Krebszellen. Heute weiß man, dass sie viele Auswirkungen hat, z.B. auf Immunzellen im Tumor oder auch das Mikrobiom. Dazu gibt es die gezielten Therapeutika, die einzelne Signalwege attackieren und den Meilenstein der Immuntherapie darstellen. Die Frage ist jetzt: Wie webe ich diese Möglichkeiten optimal zusammen? Es gibt viele Patienten und Patientinnen, deren Tumor auf den ersten Blick gleich ausschaut, aber bei hochauflösender genetischer Analyse sich substantielle Unterschiede zeigen, die dann auch Therapieentscheidend sein können.  

 

Ganswindt: Chemo- und Strahlentherapien werden nicht einfach abgelöst, sondern es kommt etwas Neues dazu. Die große Kunst dabei ist, die optimale zeitliche und inhaltliche Kombination zu finden, also: Wann und in welcher Reihenfolge wendet man bei welchen Patientinnen und Patienten welche Therapie an? Welche Reihenfolge wird bei bestmöglicher Wirksamkeit am besten vertragen?

 

Wolf: Beim Lungenkrebs gibt es Beispiele von Erkrankten, die wir früher mit Chemotherapie behandelten und die heute nur mehr Tabletten bekommen. Heute wird der Tumor sequenziert und wir finden bei 15 bis 20 Prozent – vor allem bei Leuten, die nicht rauchen –, ein Lungenkarzinom mit einem genetischen Treiber. Liegt beispielsweise eine so genannte EGFR-Mutation vor, behandelt man die Krankheit sehr erfolgreich mit einer Tablette täglich. Dank der genetischen Kartierung des Lungentumors sehen wir heute auch ganz seltene Veränderungen und einige dieser Mutationen können wir inzwischen mit neuen Medikamenten gezielt angreifen. Durch solche Innovationen findet heute oft über eine gewisse Zeit eine Chronifizierung von Krebserkrankung statt und wir werden immer besser darin, zu identifizieren, für welche Subgruppen wir welche Therapie benötigen.

 

Ganswindt: Personalisierung ist aber nicht nur in hochentwickelten molekularbiologischen Dingen wichtig. Es hilft auch schon, wenn man weiß, welcher Patient und welche Patientin nicht von einer Therapie profitiert. So kann man ihnen von vornherein Behandlungen ersparen. Wir versuchen auf diese Weise auch die Strahlentherapie zu deeskalieren und beispielsweise mit niedrigeren Dosen zu behandeln. Personalisierung heißt: die Patienten und Patientinnen richtig selektieren und ihnen das richtige anzubieten. Das ist in Kombination mit der medikamentösen Therapie sicher komplexer geworden als in früheren Jahren.

 

In welchen Bereichen der Krebsmedizin sehen Sie noch mehr Handlungsbedarf?

 

Wolf: Patient Empowerment ist etwas ganz Wichtiges. Patientinnen und Patienten sollen noch mehr ihre Stimme erheben, etwa wenn es um die Nutzenbewertung von Studien und wissenschaftlichen Konzepten geht. Wir wünschen uns das auch für unsere Region sehr viel nachhaltiger. Das CCCI ist eigentlich ein Netzwerk, das neben der fachlichen Kooperation im Westen auch die Betroffenen einbinden will und im Mittelpunkt sieht.

 

Ganswindt: Die Stimme der Patientinnen und Patienten wird zunehmend gehört und wir wollen sie auch hören. Das könnten wir noch sehr viel stärker forcieren, um Berührungsängste abzubauen. Krebs betrifft uns alle und es gibt viel Informationsbedarf. Gerade gute Information trägt ganz entscheidend dazu bei, Ängste abzubauen.

 

*Comprehensive Cancer Center Innsbruck (CCCI):

Das Comprehensive Cancer Center Innsbruck ist ein interdisziplinärer Zusammenschluss aller klinisch tätigen OnkologInnen und GrundlagenforscherInnen und verfolgt das Ziel, universitäre Spitzenmedizin in allen Bereichen der Krebsmedizin anzubieten: von der Forschung und Teilnahme an (frühen) Studien, über Diagnostik, Therapie und Schmerzbehandlung bis zur Nachsorge.

 

Steckbriefe:

Der gebürtige Bayer Dominik Wolf ist seit 2018 Direktor der Univ.-Klinik für Innere Medizin V (Hämatologie und Onkologie). Bereits zuvor war der Internist, der in Erlangen-Nürnberg Medizin studierte und ab 2011 eine Professur in Bonn innehatte, viele Jahre an der Medizinischen Universität Innsbruck als Oberarzt tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Immunregulation und Entzündung bei Krebs.

 

Nach Stationen an der Eberhard Karls-Universität Tübingen (2001-2008) und der Ludwig-Maximilians-Universität München (2008-2017) folgte Ute Ganswindt dem Ruf an die Medizinische Universität Innsbruck, wo sie seit Oktober 2017 der Univ.-Klinik für Strahlentherapie-Radioonkologie als Direktorin vorsteht. Ganswindts Forschungsschwerpunkt liegt in der Optimierung von bildgeführten Bestrahlungs- und Hochpräzisionstechniken. Die interdisziplinäre Vernetzung sowie die Umsetzung translationaler Ansätze sind ihr besondere Anliegen.

Text: Theresa Mair, Bild: Gerhard Berger

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