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Das Grazer Mangelernährungsscreening - GMS

Mangelernährung bei Patienten verhindern! Anna Maria Eisenberger und Doris Eglseer entwickelten ein flächendeckendes Mangelernährungsscreening zur Erfassung von Risikopatienten. CredoMedia traf sich zum spannenden Interview mit den beiden Diätologinnen.


Mangelernährung bei Patienten verhindern! Anna Maria Eisenberger und Doris Eglseer entwickelten ein flächendeckendes Mangelernährungsscreening zur Erfassung von Risikopatienten. Sie haben es geschafft in ihrer Studie zu beweisen, dass das 2006 eingeführte „Grazer Mangelernährungsscreening“, nicht nur eine einfach zu handhabende Methode ist, die innerhalb von drei bis fünf Minuten durchgeführt werden kann, sondern auch wissenschaftlich fundiert ist. Das GMS-Tool ist in ein elektronisches Dokumentensystem eingebunden, sodass mangelernährte Patienten sofort an die Diätologie verwiesen werden können. Das erleichtert entscheidend die Arbeit von ÄrztenInnen und DiätologInnen.



CredoMedia (CM): Erläutern Sie uns zu Beginn bitte kurz worum es in dem Projekt geht und wie es zustande gekommen ist.

Eisenberger (AE): Als Vorausinformation gilt es vielleicht zu sagen, dass es im Universitätsklinikum bereits seit 1997 ein Ernährungsteam gibt, das interdisziplinär besetzt ist. Das heißt, das Team setzt sich aus ÄrztenInnen, DiätologenInnen, Pflegefachkräften und ApothekerInnen zusammen. Dieses Gremium hat die  Aufgabe, im Auftrag der Anstaltsleitung ernährungsrelevante Fragen, die die Patientenversorgung betreffen, zu behandeln. 2003 wurde vom Europarat eine Resolution über die  Verpflegung und Versorgung in Krankenhäusern veröffentlicht. Darin ist verankert, dass die Erfassung des Ernährungszustandes eines Patienten zum Zeitpunkt seiner stationären Aufnahme bei der Patientenversorgung ein wichtigstes Kriterien darstellt. In der Folge haben wir damit begonnen, uns mit diesem Thema interdisziplinär auseinander zu setzen , und einen Fragebogen/Screeningbogen zu entwerfen. Ernüchternd war im Anschluss jedoch die Feststellung, dass einen schriftlich ausgefüllten Fragebogen natürlich auch jemand händisch auswerten muss.

In der Folge wurde in Zusammenarbeit mit der EDV-Abteilung versucht, diesen Screeningbogen in die elektronische Datenverarbeitung zu implementieren. Alles in allem hat diese Arbeit etwa zwei Jahre lang gedauert, bis dieser von uns entworfene Bogen Ergebnisse lieferte, die für uns verwertbar waren. Im Anschluss wurde noch mit der ärztlichen Direktion besprochen, wie dies am besten in das Patientendokumentationssystem einbezogen werden kann.

Danach startete unsere Promotion-Tour. Wir hatten eine Pilotstation, auf der das Projekt etwa ein halbes Jahr lang lief und auch immer wieder adaptiert wurde. Anschließend wurde eine Station nach der anderen in das Projekt mit aufgenommen.

Finanziert wurde das ganze vom Klinikum selbst. Wir haben unsere eigene Manpower investiert. Mitgearbeitet haben sehr maßgeblich ein Intensivmediziner, ein Internist, eine Chirurgin und eben die DiätologInnen des ernährungsmedizinischen Dienstes . Schließlich wurde über die Pflegedirektion auch noch Pflegepersonal  eingebunden.

Die Entwicklung selbst hat etwa zwei Jahre gedauert, bis das Screeningtool in allen relevanten Stationen implementiert war hat es nochmals 2-3 Jahre gedauert.

 

CM: Wie lange muss ein Patient stationär aufgenommen werden, um das Screening mit ihm sinnvollerweise durchführen zu können?

AE: Grundsätzlich ist es so, dass die Erfassung des Ernährungszustandes des Patienten zum Zeitpunkt seiner stationären Aufnahme erfolgen soll. Bei Patienten in einer Augenklinik etwa, erscheint dies nicht immer sinnvoll, wenn diese die Klinik beispielsweise bereits am nächsten Tag wieder verlassen. Ansonsten spielt die Verweildauer des Patienten überhaupt keine Rolle. Das Ziel ist es einfach, dass der Patienten im Falle eines Risikos rasch einer Ernährungsintervention zugeführt wird.

Wir haben uns als Vorbild für dieses Mangelernährungsscreening internationale Tools angesehen. Diese waren jedoch nicht immer für unseren klinischen Bereich anwendbar, konnten jedoch als Grundlage herangezogen werden. Dann standen wir jedoch vor dem Problem, dass wir eine universitäre Einrichtung sind und viele unserer Studierenden bzw. zukünftigen Mediziner, mit diesem Tool wissenschaftlich arbeiten wollten. Dazu war jedoch erst eine Validierung notwendig.

 

Eglseer (DE): Im Jahr 2014 wurde deshalb eine Studie durchgeführt, um unser Mangelernährungsscreening wissenschaftlich zu überprüfen. Hierzu wurde getestet wie valide und reliabel das Tool ist. Über 400 Patienten wurden dafür zufällig ausgewählt und in die Studie einbezogen. Wir sind schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es im Vergleich mit schon vorhandenen Screening-Tools sehr gute, Ergebnisse in Bezug auf Validität, liefert. Auch bei Durchführung des Screeningtools durch zwei verschiedene Personen (= Reliabilität), wurden hervorragende Ergebnisse erzielt. Somit konnte unser Tool wissenschaftlich validiert werden, was für die weitere klinische Verwendung und auch das internationale Ansehen von großer Bedeutung ist. Schließlich haben wir die Ergebnisse heuer auch im British Journal of Nutrition publiziert. Daneben wurden auch weitere Artikel zum Mangelernährungsscreening veröffentlich, um den Bekanntheitsgrad des Tools weiter zu steigern.

 

AE: Österreichweit waren wir die Ersten, die ein solches Tool in ein Patientenmanagementsystem implementiert haben. Auch liefert uns DiätologInnen das Tool eine automatische Meldung, wenn es sich bei einem Patienten um einen Risikopatienten handelt.

Wir wissen dann, dieser Patient muss visitiert werden. Es muss erhoben werden, wo sein individuelles Risiko liegt und was für seinen weiteren stationären Aufenthalt zu beachten ist. Mögliche Probleme könnten etwa sein, dass er nicht gut schlucken kann, an Durchfall oder Erbrechen leidet oder einfach appetitlos ist. Zusammen mit dem behandelnden Arzt wird dann entschieden, wie der Patient bezüglich seiner Ernährung weiter behandelt wird.

 

CM: Und ich vermute, dass Sie mit diesem System bereits große Erfolge feiern?

AE: Eine Überprüfung hat ergeben, dass zirka 40 % der Patienten Risikopatienten sind. Und das sind Menschen, die bereits deutlich an Gewicht verloren haben, bevor sie ins Krankenhaus gekommen sind. Im Zuge der normalen Aufnahme eines Patienten wird darauf aber leider nicht geachtet. Daher ist es so wichtig, dies mit dem Mangelernährungsscreening erheben zu können.

Es ist nämlich durchaus so, dass ein Patient, der mit Normalgewicht stationär aufgenommen wird, optisch nicht gerade auffällt. Bevor es das Mangelernährungsscreening gab, konnte erst durch eine explizite Nachfrage, ob er denn an Gewicht verloren habe, ein Mangelernährungsrisiko festgestellt werden. h Unterblieb diese Frage jedoch, blieb auch die Mangelernährung unbemerkt. Es ist aber gerade diese ungewollte Gewichtsabnahme, die ganz deutlich auf eine Mangelernährung hinweist.

 

CM: Wie läuft die Aufnahme eines Patienten mit dem Screeningtool ab?

AE: Die Pflege stellt dem Patienten im Wesentlichen drei vorgegebene Fragen und gibt die Antworten in die EDV ein. Etwa nach dem aktuellen Gewicht und Größe. Der PC errechnet dann automatisch den BMI. Weiter wird explizit nach kürzlichem Gewichtsverlust gefragt. Dadurch kann der Computer den prozentuellen Gewichtsverlust der letzten drei Monate berechnen. In der Folge wird dann eine Bewertung erstellt, in die das Alter sowie die beiden errechneten BMI-Werte mit einfließen. Der dritte Fragepunkt erkundigt sich nach der Nahrungsaufnahme des Patienten und eines etwaigen Rückgangs, verursacht durch Kau- oder Schluckbeschwerden, Durchfall, Erbrechen, Übelkeit oder Appetitlosigkeit.

Der behandelnde Arzt muss anschließend die Diagnose hinzufügen. In der Folge sieht man die endgültige Auswertung des Patienten Bei einem Score von 3 oder darüber erscheint ein roter Blitz, der uns darauf hinweist, dass eine Mangelernährung vorliegt.

Anschließend wird versucht, der Ursache für die Mangelernährung auf den Grund zu gehen und mögliche Therapieschritte werden aufgezeigt. Man sieht sich dann auch, mit Hilfe eines von uns entwickelten Tellermonitorings an, wie viel der Patient in letzter Zeit gegessen hat und wie viel Nahrung er überhaupt in der Lage ist aufzunehmen. Die Pflege notiert bei Frühstück, Mittag- und Abendessen, die Größe der verzehrten Portion. Kann er etwa nur eine halbe Portion des standardisierten Krankenhausessens zu sich nehmen, das sind höchstens 1.000 Kalorien, ist eine weitere Gewichtsabnahme vorprogrammiert. Wir DiätologInnen schauen uns dann an, wo der tägliche Kalorienbedarf des Patienten liegt, wie dieser erreicht werden kann und welche Möglichkeiten zur Adaptierung gegeben sind, um eine Gewichtsabnahme zu verhindern. Wenn ein Patient etwa Schluckbeschwerden hat, dann wird die Nahrung so weit  zerkleinert, dass die Aufnahme für ihn ohne große Beschwerden stattfinden kann. Daneben wird sie mit weiteren Kalorien angereichert, damit auch der Nährwert ausreichend ist.

 

CM: Wo wird diese Methode mittlerweile überall eingesetzt?

AE: Auf der Klinik in Graz wird das Screening verwendet. Daneben gibt es auch einige Kages- Spitäler, die diese Screening- Methode anwenden.

 

CM: Und Ihr Ziel ist eine österreichweite Anwendung?

AE: Im Sinne einer qualitativ hochwertigen Patientenbetreuung ist eine verpflichtende Anwendung ein großes Ziel. Denn je nach notwendiger Therapie oder Operation, ist die Rekonvaleszenz verzögert, wenn der Patient in einem schlechten Ernährungszustand ist.

DE: Ein häufiges Problem vor dem Screening war auch, dass wir DiätologenInnen die Patienten erst dann zu Gesicht bekamen, wenn sie bereits einige Tage im Spital waren. Dank des Screenings kann vom ersten Tag an auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten eingegangen werden und so eine weitere Schwächung vermieden werden.

Man weiß auch aus Studien, dass in anderen Ländern Instrumente verwendet werden, die im Laufe der Zeit auf kleinen Zetteln begannen und weiterentwickelt wurden. Viele dieser Instrumente wurden jedoch nie wissenschaftlich validiert. Und das ist natürlich ein Problem, da man dann nicht weiß, ob nicht mangelernährte Patienten durch den Rost fallen und nicht als Risikopatienten erkannt werden.

 

CM: Wie geht’s für Sie jetzt weiter? Sind für das Jahr 2016 weitere Schritte geplant?

DE: Ich persönlich befinde mich aktuell gerade in einem PhD- Programm und werde mich im Zuge dessen weiterhin mit dem Thema Mangelernährungsscreening beschäftigen. In welche Richtung genau, steht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht fest, aber definitiv wird die wissenschaftliche Arbeit  dieses Thema behandeln..

 

CM: Wie würden die Schritte aussehen um dieses Tool wirklich verpflichtend zu machen?

AE: Dazu wäre meiner Meinung nach wohl eine Entscheidung von höchster Ebene notwendig, . Es gibt etwa Bundesqualitätsleitlinien für die Aufnahme und Entlassung des Patienten, wo so etwas Platz finden könnte. Es gibt Empfehlungen der nationalen Ernährungskommission, wo es empfohlen wird. Aber jede Empfehlung ist eben leider nur eine „Kann“- und keine „Muss“-Sache.

 

CM: Es wäre auf jeden Fall wünschenswert, dass es soweit kommt. Immerhin leistet das Mangelernährungsscreening einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit der Patienten. Nur wissen das leider nicht allzu viele Menschen, oder?

AE: Das ist richtig. Wenn man das Wort „Mangelernährung“ hört, denken viele Menschen an Übergewicht oder Fettleibigkeit. Es ist wichtig, den Begriff der Mangelernährung richtig zu interpretieren und von der Fehlernährung differenziert zu betrachten. Aktuell gibt es österreichweit einen Tag, den sogenannten Nutrition Day, wo in allen Spitälern der Ernährungsstatus aller Patienten erfasst wird.  Daneben gibt es eine jährliche Pflegequalitätserhebung, wo das Thema Mangelernährung auch eine größere Rolle spielt. Es gibt also durchaus immer wieder Initiativen und ambitionierte Gruppen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen.

 

CM: Vielen Dank für das ausführliche Interview!


Zu den Personen:

Anna Maria Eisenberger, MBA: Leitende Diätologin, Ernährungsmedizinischer Dienst am Universitätsklinikum des Grazer LKHs

Doris Eglseer, BBsc MSc: Diätologin, Universitätsassistentin und Doktorandin am Institut für Pflegewissenschaft der  Medizinischen Universität Graz



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